Ohne Frage: der Gesellschaft wird derzeit einiges abverlangt. Langfristige Trends am Arbeitsmarkt, bei der Globalisierung und der Inflation kehren sich um – Schocks wie die Pandemie oder der Krieg in der Ukraine wirken dabei wie Brandbeschleuniger.
Hinzu kommen sehr große Aufgaben wie der Klimawandel und zunehmende politische Spannungen zwischen West und (Fern-)Ost. Zu allem Überfluss steht die Weltwirtschaft am Rande einer Rezession, von der niemand mit Sicherheit sagen kann, wie schwer sie ausfallen und wie lange sie andauern wird.
Angesichts dieser Kulisse ist es kaum verwunderlich, dass auch die internationalen Börsen in diesem Jahr teilweise heftige Kursrückgänge verzeichnen. Anleger sehen sich gezwungen, zentrale Annahmen zu überdenken, die ihre Investmentpolitik in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich geprägt haben. Darunter fällt etwa die Prämisse nur geringer Inflationsrisiken in den großen Industrieländern oder fortwährend niedriger Zinsen.
Wirtschaft und Börse werden von jetzt an wieder stärker auf sich allein gestellt sein. Zukünftig ist von deutlich stärkeren Konjunkturschwankungen auszugehen, als wir es aus der jüngeren Vergangenheit kennen. Das Problem: Der Übergang in eine Welt, in der Kapital wieder etwas kostet und die Konjunktur schwankt, wird nicht ohne Widerstände verlaufen. In den vergangenen Jahren haben sich wirtschaftliche Ungleichgewichte aufgetürmt, etwa im Hinblick auf die Staatsverschuldung in einigen Ländern oder den Immobilienmarkt. Daher könnte es in den kommenden Jahren in manchen Bereichen der Wirtschaft zu schmerzhaften Entwicklungen kommen.
Langfristig bietet die Rückkehr zur „Normalität“ aber auch einige Vorteile, die man ggf. erst auf den zweiten Blick als solche wahrnimmt: In wechselnden Konjunkturzyklen könnte die Risikolust von Marktakteuren zurückgehen und damit Spekulationsblasen weniger Raum geben. Steigende Zinsen sorgen darüber hinaus für Bereinigungsprozesse in der Volkswirtschaft: Dauerhaft unprofitable Unternehmen werden durch höhere Finanzierungskosten schneller vom Markt verschwinden. Dadurch werden voraussichtlich Ressourcen frei, die in produktiveren Geschäftsmodellen besser und effizienter eingesetzt werden können.
Für viele Börsenanleger ist Investieren in Zeiten (nachhaltig) steigender Zinsen Neuland. Sie könnten dazu „gezwungen“ werden, sich wieder an die Grundtugenden des Investierens zu erinnern: Fundamentale Bewertungen und Bilanzqualität werden wieder zu Selektionskriterien bei Aktien – anstelle wohlklingender Werbe- und Investment-Botschaften ohne unternehmerische Substanz. Ein differenzierter Blick lohnt sich: aus vermeintlich positiven Trends könnten Flops werden!